Ausschnitt aus meiner Dissertation

Viele Menschen, so meine Erfahrung, haben wenig bis gar keine Ahnung, was und wie Theoretiker in den Naturwissenschaften arbeiten. Deshalb eine kleiner Einblick in meine Welt.

 

 

Meiner Erfahrung nach teilt sich die Arbeit in 5, teilweise nicht klar von einander getrennte Schritte:

1. Aspiration

Bevor ich mich einem Problem widme, ist Einarbeitung gefragt: Was gibt es an experimentellen Daten? Welche bisherigen Modelle wurden vorgeschlagen? Wo sind die Mängel dieser Modelle? Welche (mathematischen) Tools werde ich benötigen und muss ich mir gegebenenfalls noch aneignen? Es ist eine lehrreiche, aber sehr mühsame Zeit, vor allem da kein Gebiet abschliessend ist, und die Literatur dazu nahezu unerschöpflich. Sobald man denkt, man hätte einigermassen den Überblick, sieht man eine neue Referenz, welche einen ganz neuen Blickwinkel eröffnet, oder es kommt ein Kollege, der einen auf seiner Meinung nach wichtige Literatur aufmerksam macht.

 

2. Inspiration

Dieser Schritt ist der herausforderndste und unberechenbarste. Ich brauche eine Idee für ein Modell. Oftmals, wenn man ein neues Problem angeht, startet man bereits mit einer Idee. Jedoch lässt man diese normalerweise während Schritt 1 wieder fallen. Hier lässt sich nichts erzwingen, vor allem wenn man nicht nur eine bekannte Lösung auf ein neues Problem anwenden will (was unter Umständen aber das beste sein kann). Meistens gelingt dieser Schritt weder auf die Schnelle noch am Arbeitsplatz. Meist irgendwann in der Kaffeepause, oder im Bett, aber auch mitten in einem Konzert kommen die Einfälle. Oftmals heisst es wieder zurück zu Schritt 1 auf der Suche nach neuer Inspiration. Und es kann lange dauern: für die Idee für die Generalisierung des pair Hidden Markov Models haben mein Professor und ich drei Wochen lang tagtäglich gehirnt, ohne Erfolg, und haben das Ganze dann beerdigt und nie wieder dran gedacht. Ein Jahr später sitz ich in der Cafeteria. Plötzlich kreuzt das Problem wieder mein Hirn und ich seh die Lösung vor mir. Zurück am Arbeitsplatz hab ich innerhalb  von drei Stunden alles sauber mathematisch fertig ausformuliert, womit wir bei Punkt 3 wären.

 

3. Transpiration

Hat man erst einmal die Idee, beginnt normalerweise die Arbeit erst richtig. Jetzt heisst es das mathematische Rüstzeug auspacken und sich reinknien. Es ist der Teil der Arbeit, welcher zumindest mir am meisten Spass macht. Man kann anwenden, was man gelernt hat, zeigen was man kann, und andere Theoretiker von der Schönheit des Modells überzeugen. In der Sprache der Mathematik konstruiert man ein Modell und in derselben Sprache zieht man die Schlussfolgerungen daraus. Man kommt in einen Flow rein, eine fast schon euphorische Stimmung, welche einen vieles um einen herum vergessen lässt, inklusive Zeit. Will man das ganze nun in einem theoretischen Journal veröffentlichen, so springt man direkt zu Schritt 5, ansonsten

 

4. Implementation und Desperation

Was nun kommt ist langwierig und undankbar. Das schöne, mathematische Modell muss nun getestet, auf Herz und Nieren geprüft werden. Meist beinhaltet dies die Implementation einer Computersimulation Das Ergebnis dieser Simulation muss dann mit den Daten der Experimentallisten und der Performance anderer Modelle verglichen werden. Welche Daten kann das Modell erklären, welche nicht? Und was kann es erklären, was andere Modelle nicht können?  Nicht selten wird ein Modell hier wieder eingestampft und es heisst zurück zu Schritt 2. Falls das Modell bis hierhin intern für gut befunden wird, so müssen jetzt die Experimentallisten überzeugt werden. Und diese interessieren sich nicht für Schönheit. Ihnen geht es nur darum, ob ich ihre Daten erklären kann. Wenn ja, dann finden sie das Modell gut, wenn nein, naja, dann ist viel Arbeit notwendig, um ihnen zu erklären, dass ihre Daten nicht die einzigen sind, und dass das Modell Daten anderer Forscher sehr wohl erklärt. Oftmals sind Schritt 4 und 5 zyklisch abwechselnd.

 

5. Publikation

Abschluss einer jeden Arbeit sollte die Publikation dieser sein. Für viele Wissenschaftler ist dies leider auch zum Ziel geworden. Das Schreiben der Publikation ist ein Arbeit, die mir nicht liegt. So schnell ich manchmal mit dem Mund bin, so langsam bin ich an der Tastatur. Ich schreibe viel zu selten einfach darauf los, und überlege an jedem Begriff rum. Es gibt Tage, da schreibe ich insgesamt drei Sätze und lösche deren fünf. Ist man fertig mit schreiben, schickt man den Artikel an ein Journal seiner Wahl. Diese lässt die Arbeit peer-reviewen, dass heisst, von anderen, anonymen Wissenschaftlern beurteilen, ob wissenschaftlich alles solide ist, was verbessert werden muss, und bei den meisten Journals auch, ob das Thema für die Leser eigentlich überhaupt relevant ist. Der Artikel geht meist mehrmals hin und her(und wird meist verschlimmbessert), bis er dann publiziert wird, oder eben auch nicht. Wenn nicht, dann verbessert man den Artikel ein weiteres Mal und klopft man beim nächsten Journal an.

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